Lebenslicht - eine Nach-Weihnachtsgeschichte
Es war am letzten Sonntag im Jänner. Draußen strahlte die Sonne, und die Kristalle der dünnen Schneedecke, die sich über Nacht wie von Zauberhand auf die Dächer der Stadt gelegt hatte, schmolzen glitzernd in sich zusammen.
Gerade hatte ich begonnen, den Weihnachtsschmuck einzusammeln, hielt bei dem einen oder anderen lieben Weihnachtsbrief inne und dachte an die Menschen, mit denen ich solche schönen Gepflogenheiten teilte. Da kam mir auch der getrockenete Granatapfel auf meinem Obstteller unter. Oben, in der tiefen Einbuchtung seines breiten Strunkes steckte noch die Lebenskerze, welche Anfang Dezember noch meine Geburtstagstorte geziert hatte. Ich mag solche symbolische Gesten. Manchmal zelebriere ich in Gedanken noch einmal das Ereignis hinter solchen Erinnerungsstücken und erfreue mich daran. Das kleine weiße Kerzchen auf seinem Kunststoffhalter war nun nichts, das ich wieder zu den anderen Kerzen zurücklegen wollte, und einfach so entsorgen kam mir auch etwas unromantisch vor, also beschloss ich, sie würdevoll in den Sand meiner Räucherschale zu stecken und sie fertig abbrennen zu lassen. Es sollte nicht mehr sein als ein kurzer Moment in meinem Lieblingssessel, angenehm, mit meinem Laptop am Schoß, eine Tasse Kaffee und eben für kurze Zeit ein Kerzenlicht neben mir, bevor mich die nächsten Mails im Posteingang wieder vereinnahmen würden. Es kam aber anders, denn vor mir begann sich ein Schauspiel zu entfalten, das mich so bewegte, dass ich gerne davon erzählen will.
Ein Geburtstagskerzchen, das schon bei der eigentlichen Feier angezündet war, ist ja nicht gerade voluminös. Gerade die bunten kleinen mit ihren Plastikspießchen sind schmal, nicht viel dran, das Kerzenlicht hat definitiv nicht viel Zeit und soll es wohl auch nicht. Einmal kurz anzünden, möglichst alle schnell ausblasen, und das war’s. Aber wie dieses zarte Licht so dastand, sah ich mit einem Mal meine Lebensspanne darin, die Zerbrechlichkeit meines Körpers, seine Endlichkeit. „Ein Leben ist so lang und nicht länger. Ein menschlicher Körper wird so alt und nicht älter. Wenn die Flamme das Licht ist, das mich selbst mit Leben erfüllt und das ich gleichzeitig auch an die Welt verschenken kann, dann ist dieses Licht auf meinen Körper angewiesen, und wenn der Körper sich erschöpft hat, ist es in dieser Form zu Ende.“ Das dachte ich mir, als gerade der erste Wachstropfen herunterlief und die dünne Kerze gleich um ein Stück kürzer wurde. Es schauderte mich, so klar mit der Endlichkeit konfrontiert zu sein. Gleichzeitig wurde der Docht aber länger, dieser schien recht robust zu sein und länger stehen zu bleiben. Er schien stärker als der schmale Wachsmantel drumherum, und je mehr das schwindende Wachs ihn freigab und er sich freistehend nach oben reckte, desto größer wurde die Flamme. „Aha“, dachte ich mir, „je mehr von der Essenz sichtbar wird, desto heller das Licht.“ Und es stimmte, denn langsam erreichte die Kerze eine Länge, in der sie selbst nicht mehr höher war als die Flamme, die über ihr stand. „Das ist wohl der Höhepunkt des Brennens. Aber das geht auch ziemlich an die Substanz. Jetzt wird sie sich wohl gleich ausgebrannt haben.“ Und ich dachte an Burnout und wie sich die hellen Lichter der Menschheit wohl ab und zu in einsamen Momenten fühlen müssen. Da wurde sich der Docht in seiner Länge, diese bemerkenswert hohe Flamme tragend, auf einmal selbst zu schwer. Er begann sich zu neigen. Langsam, wie eine Verbeugung sah das aus. Und je weiter sich der Docht nach unten neigte, desto weniger verzehrte ihn die Flamme. Sie begann wieder gleichmäßiger zu brennen. Nun schien das Licht „durch“ den Lebensfaden hindurchzuscheinen, nicht mehr aus ihm selbst heraus … was vorher so ausgesehen hatte, war wirklich Schein gewesen. Die Flamme bedient sich immer der Substanz, sie entsteht nicht aus ihr. Der Mensch in seinem Körper kann immer nur für eine Zeit lang Träger sein – für etwas, das nicht aus ihm selbst heraus kommt, das ihm selbst auch nicht gehört. Und in dem Moment, wo man leuchtet, und das Licht mehr und mehr wird, mehr und größer als man selbst es noch zu fassen vermag, dann ist es spätestens Zeit, beiseitezutreten, sich zu verneigen. Dann ist man zum Träger geworden, wie das kleine Kerzchen zum Träger des großen Feuers geworden ist, in jener Form und Größe, welche die Substanz eben zu fassen und zu tragen vermochte.
Tief verneigt trug der Docht nun die Flamme, welche das Wachs wieder langsamer und gleichmäßiger verbrauchte. Für eine Zeit würde es noch so dahingehen, bevor das Ende der Kerzenlänge erreicht wäre. Mir kam das Bild des Eremiten, Schlüssel 9 im Tarot, der mit geneigtem Haupt, auf seinen Stab gestützt, eine Lampe hochhält. In bestimmten Kartendecks ist das Licht in der Lampe als sechszackiger Stern dargestellt, zwei verschränkte Dreiecke als Symbol für das Licht von unten und das Licht von oben in Vereinigung. Der Weise ist sich seiner Rolle bewusst und stellt sich in den Dienst des Einen Lebens. (Anm. Schlüssel 9, Der Eremit, ist im Golden-Dawn-System dem Tierkreiszeichen Jungfrau zugeordnet.)
Und dieses Licht, freigegeben in der Verneigung des kleineren Egos vor dem höheren Ego, wird zur Fackel, die auch andere Dochte entzünden kann. In meiner Räucherschale standen rund um das Kerzchen noch einige Bambusstäbchen, Reste von herabgebrannten Räucherstäbchen, die sich wie Zeugen rund um die Lebenskerze scharten. Sie fingen auf einmal alle Feuer, und es entstand eine Flamme, wie sie durch eine einzelne Kerze nicht entstehen könnte. Für einen Augenblick war das gewaltig anzusehen. Feuertaufe, im direkten Sinn, und dann … verebbte auch dieses Freudenfest wieder. Die Lebenskerze war nun endgültig müde geworden. Im Kelch des Kunststoffhalters hielt sich ein letzter Tropfen des Wachses, mit einer stillen Flamme darüber. Es war der Endpunkt. Von hier aus ging es in diesem Kerzenkörper nicht mehr weiter. Und wie der Tropfen langsam verdampfte und sich mit dem Feuer in einen schwarzen Rauch auflöste, trat ein beißend scharfer Duft hervor und erfüllte den Raum. Das Leben der Kerze hatte die Ebene gewechselt. Sie hatte ihren Zyklus vollendet. Und sie hatte mir in diesen wenigen Minuten Dinge über das Leben erzählt, über die ich weit darüber hinaus nachzudenken habe.
Was hat das alles mit Astrologie zu tun? Ich denke, es ist das Sehen, das sich durch die Beschäftigung mit Symbolsystemen dieser Art verändert und erweitert. Die Symbolsprache der Astrologie, auch wie hier in Verbindung mit anderen westlichen Symbolsystemen, ist eine Sprache in Analogien, Metaphern, Gleichnissen, deren Alphabet die astrologischen Symbole sind. Innere Zusammenhänge hinter äußeren Phänomenen zu erfassen, verhilft zu einer vertieften Wahrnehmung und macht das Leben reicher. Wer an diese symbolische Betrachtungsweise gewöhnt ist, erlebt wundersame Geschichten, die an anderen ungesehen vorüberziehen, und hat Möglichkeiten, auf das eigene Leben zu schauen, die andernfalls nicht bestehen. Ereignisse scheinen ohne Landkarte zufälliger, und der Mensch treibt unbewusster durch seine Existenz.
Im Jahr 2021 werden wir drei Saturn-Uranus-Quadrate erleben. Viel wird sich um die Frage nach dem Alten und nach dem Neuen drehen. Und jede/r von uns wird Gelegenheit haben, sich zu fragen, welche Regeln und Strukturen so gut und sinnvoll sind, dass sie allgemein gültig bleiben (sollen) (Steinbock/Saturn), egal wie stark der Wind der Hinterfragung und des Neuen (Wassermann/Uranus) weht, und wo es notwendig ist (auch Steinbock-Saturn), über den etablierten Rahmen hinaus zu denken und teamfähiger zu werden im Sinne einer besseren Zukunft für alle (Wassermann-Uranus). Mögen wir Antworten darauf finden, die unser Licht zeigen, die uns aufrichten und uns Klarheit, Kraft und Zuversicht geben für unsere nächsten Schritte. Und mögen diese Antworten Zeugen der Menschenwürde sein, vor uns und vor jenen, die nachkommen.
Aus den Gedanken von
Andrea Konrad, Januar 2021